New York: Kulturhauptstadt der Welt

New York: Kulturhauptstadt der Welt
New York: Kulturhauptstadt der Welt
 
Frank Sinatra hat sie weltberühmt gemacht, die Hymne der Stadt, die niemals schläft, der Stadt, in der alles möglich ist: »New York, New York«. »If I can make it there, I'll make it everywhere«, so lautet das Credo des Songs, »wenn ich's dort schaff, dann schaff ich's überall«. Diesem Lockruf folgen sie alle: Schauspieler, Sänger, Maler, Musiker aus der ganzen Welt. Einmal in der Metropolitan Opera zu singen, auf einer Broadway-Bühne zu stehen, ein Bild an das Metropolitan Museum of Art zu verkaufen, von der New York Times kritisiert zu werden, das ist der Höhepunkt einer Karriere, der Traum eines jeden Künstlers. Und so pilgern sie denn nach New York - die einen, die schon einen Namen haben, und die anderen, die hoffen, dass sich hier für sie das Tor zum Erfolg öffnen wird. In keiner Stadt der Welt jobben mehr Kellner, die »eigentlich« Schauspieler sind, und mehr Verkäuferinnen, die nach Manhattan kamen, um wie die legendären »Rockettes« die Beine zu schwenken und sie sich dann hinter dem Ladentisch vertreten müssen.
 
Wie die 1886 eingeweihte Freiheitsstatue symbolisiert, war New York schon immer Ziel derjenigen, die sich nach einem besseren Leben sehnten. Zur Kulturhauptstadt der Welt wurde es aber erst im 20. Jahrhundert. Der Historiker Fernand Braudel vertrat die These, dass sich »nach 1929 der Schwerpunkt der Weltgeltung von London nach New York zu verlagern« begonnen habe, also zeitgleich mit dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise, die am »Schwarzen Freitag« im Oktober 1929 mit dem Zusammenbruch der Börse an der Wall Street ihren Anfang nahm. Die »Weltgeltung« beschränkt sich dabei nicht nur auf kulturelle Aspekte, sondern beinhaltet auch, dass die jeweils »dominierende Stadt« über das »vollständige Arsenal der Wirtschaftsmacht« verfügt.
 
Den Grundstock für diese schließlich weltweite Dominanz wurde in New York im 19. Jahrhundert gelegt; vorher, zu Kolonialzeiten, waren Boston und Philadelphia politisch, kulturell und ökonomisch für die Entwicklung Nordamerikas bedeutender als New York gewesen. Auch die entscheidenden Impulse, die 1776 zur Unabhängigkeitserklärung führten, gingen von Boston und Philadelphia aus. Die Zeche musste allerdings auch New York bezahlen: Britische Truppen besetzten die Stadt und verließen sie erst wieder 1783, als die amerikanische Unabhängigkeit auch formell von Großbritannien und anderen europäischen Ländern anerkannt wurde. Wirtschaftlich sah es nicht gut aus in den Jahren, die der Unabhängigkeitserklärung folgten. Der Krieg hatte viel Geld gekostet; kaum gegründet, sahen sich die USA mit einem riesigen Schuldenberg konfrontiert. Um ihn abzutragen, gab der Staat Anleihen heraus - das war die Geburtsstunde der New Yorker Börse. Auch außenpolitisch musste man sich etwas einfallen lassen. Da Großbritannien nun als Handelspartner ausfiel, wandten sich die New Yorker auf der Suche nach neuen Handelsmärkten nach Asien: Das Schiff »Empress of China« eröffnete 1784 den Handel mit China.
 
New Yorks Aufstieg hing eng mit seinem Hafen zusammen, der damals noch am East River lag: Bedeutung erlangte er nach dem Krieg, den die USA zwischen 1812 und 1814 gegen Großbritannien führten. Der wirkliche Durchbruch aber kam 1825 mit der Fertigstellung des Eriekanals, der Buffalo mit Albany und damit New York mit den Großen Seen und dem Mittleren Westen verband, dem expandierenden Agrargebiet des Landes. New York, seit 1820 die größte Stadt der Vereinigten Staaten, wurde zum wichtigsten Umschlagplatz und bedeutendsten Hafen des jungen Landes. Wirtschaftliches Wohlergehen und Bevölkerungszuwachs führten auch zu einer drastischen Veränderung des Stadtbilds: 1811 präsentierten die Stadtplaner einen Entwurf, der vorsah, die ganze, bislang nur im Süden bebaute Insel, auf der New York lag, mit einem rasterförmigen, durchnummerierten Straßennetz zu überziehen. Spätere Generationen sollten diesen Plan noch verfluchen. Denn als die Stadt wuchs und man Mitte des Jahrhunderts erkannte, dass eine grüne Lunge die Lebensqualität entscheidend erhöhen würde, mussten die 340 Hektar, auf denen der Central Park entstehen sollte, für teures Geld von Spekulanten zurückgekauft werden.
 
Seine nachhaltigste und größte Veränderung erfuhr New York im 19. Jahrhundert, als die Masseneinwanderung einsetzte. Über zwei Millionen Immigranten landeten in den Fünfzigerjahren im Hafen von New York - hauptsächlich Iren, die dem Hunger entflohen, und Deutsche, die nach der gescheiterten Revolution von 1848 eine neue, liberalere Heimat suchten. Nicht alle Einwanderer blieben in der Stadt. Wer sich aber hier niederließ, zog in die Lower East Side, wo bald ein blühendes »Kleindeutschland« mit Bierhallen, Theatern, Bibliotheken und Verlagshäusern entstand. In den Achtzigerjahren wandelten sich Teile der Lower East Side dann zum Stetl: Von Pogromen vertrieben, kamen bis 1914 etwa zwei Millionen Juden aus Russland nach Amerika. Die meisten von ihnen lebten zumindest zeitweise in der Lower East Side, zusammengepfercht und unter grauenvollen sozialen Bedingungen.
 
Braudel charakterisierte die »Superstädte« auch dadurch, dass krasser Armut vieler unermesslicher Reichtum einiger weniger gegenübersteht. Was das betrifft, bereitete sich New York schon im 19. Jahrhundert auf seine Rolle als Welthauptstadt vor. Die Industrialisierung, die Erschließung des Westens und nicht zuletzt der Sezessionskrieg machten die Astors, Carnegies, Rockefellers, Vanderbilts und Morgans zu Multimillionären. Diese Familien, die in ihren großen Villen auf der Ostseite des Central Parks residierten, kontrollierten das soziale Leben der Oberschicht, sie finanzierten die 1883 eröffnete Metropolitan Opera, auf ihre Stiftungen gehen die großen Museen der Stadt zurück. In einer Gesellschaft, in der es keinen Adel gab, übernahm der Geldadel dessen kulturelle Vorreiterrolle, wobei der Kulturbetrieb seine Impulse damals noch aus Europa bezog. Einzig die amerikanische Literatur hatte schon Mitte des 19. Jahrhunderts eigenständige Formen entwickelt; die philosophisch-literarische Bewegung des Transzendentalismus ging jedoch nicht von New York, sondern von Concord bei Boston aus. New York erschien den Transzendentalisten damals als »ausgelutschte Orange«, wie Ralph Waldo Emerson, einer der Hauptvertreter des Kreises, formulierte.
 
Aus der »Orange« wurde in den Zwanzigerjahren ein »Apfel«, »the big apple«. Dieser nun nicht mehr despektierlich gemeinte Ausdruck stammt aus der Sprache der schwarzen Jazz-Musiker, für die New York zum Mekka geworden war - hier zu spielen, hieß, »den großen Apfel vom Baum zu bekommen«. Der Zuzug der Afroamerikaner ins bis dahin rein weiße New York begann kurz nach der Jahrhundertwende; Ziel war Harlem, ein Stadtteil, der eigentlich für die weiße bürgerliche Mittelschicht gebaut worden war, sich aber dann doch nicht so gut vermieten ließ, wie es die Spekulanten erwartet hatten. Ein cleverer schwarzer Immobilienhändler kam daraufhin auf die Idee, die Häuser an seine Brüder und Schwestern zu vermieten, die vor allem während des Ersten Weltkriegs, als die Industrie Arbeitskräfte benötigte, in großer Zahl in die Städte des Nordens strömten.
 
Obwohl die Zahl der schwarzen Bürger verhältnismäßig groß war - in den Zwanzigerjahren lebten in Harlem schon mehr als 200 000 Menschen -, spielten die Afroamerikaner weder im politischen noch im sozialen Leben der Stadt eine Rolle. Nach dem Zusammenschluss der fünf Stadtteile Manhattan, Brooklyn, Bronx, Queens und Staten Island (1898) zählte New York um die Jahrhundertwende 3,4 Millionen Einwohner, 1930 waren es bereits sieben Millionen. Der nicht enden wollende Einwandererstrom kam noch immer aus Europa. Von 1892 an wurden die Neuankömmlinge auf Ellis Island, der »Insel der Tränen«, auf Herz und Nieren sowie auf ihre politische Gesinnung getestet: So mancher musste wieder in die Heimat zurückkehren. Entgegen der weit verbreiteten Theorie vom »Melting pot« sprangen die Neubürger aber keineswegs in den »Schmelztiegel« New York und wurden über Nacht Amerikaner - im Gegenteil. Sie zogen in Viertel wie »Little Italy«, wo bereits Landsleute lebten und sie ihre Sprache und Kultur weiterpflegen konnten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts existierte auch ein »Chinatown«, wo fast ausschließlich Männer - Arbeiter, die man nach Kalifornien geholt und in den Siebziger- und Achtzigerjahren von dort vertrieben hatte - lebten, abgeschottet, männerbündlerisch organisiert und ihren eigenen Gesetzen folgend; kein Weißer wagte, ihr Terrain zu betreten.
 
Wer jedoch den sozialen Aufstieg geschafft und sich ein paar Dollars gespart hatte, versuchte der drängenden Enge der Lower East Side zu entfliehen und in Viertel zu ziehen, in denen Licht in die Hinterhöfe fiel und die Kinder nicht an Rachitis litten. Mit dem Bau der U-Bahn im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts wurden auch Teile Manhattans zugänglich, die bislang Brachland gewesen waren, etwa die Upper West Side. Dort entstanden, dem Beispiel des Dakota House folgend, das 1884 als viel belächelter Trendsetter errichtet worden war, in den Dreißigerjahren eine Reihe großer Appartmentgebäude, in denen auch Musiker, Literaten und Schauspieler residierten. In das ehemalige Dorf Greenwich Village mit seinen kleinen, niedrigen Häusern zog zu Beginn des Jahrhunderts die Boheme aus dem In- und Ausland. Hier eröffnete Gertrude Vanderbilt Whitney 1914 eine Galerie, in der sie damals noch höchst umstrittene Künstler, etwa Edward Hopper und Maurice Prendergast, zeigte. Aus ihrer Sammlung entstand 1931 das Whitney Museum of American Art, das neben dem Museum of Modern Art zu den bedeutendsten Museen der modernen Kunst gehört.
 
Zeitgleich zum Ausbau des Verkehrswesens verlagerten sich auch die Geschäfts-, Gewerbe- und Vergnügungszentren vom Süden in den Norden der Stadt. 1904 zog die New York Times an den nach ihrem Redaktionsgebäude benannten Platz, den Times Square, und um diese Zeit begannen auch die Theaterbauten am Broadway und an der 42. Straße emporzuschießen. Seine Blütezeit erlebte der Broadway in den Zwanzigerjahren; als Ende der Dekade die Tonfilmzeit anbrach, wurden viele Schaubühnen in »Lichtspieltheater« umgewandelt. Besonderer Beliebtheit erfreute sich in den Dreißigerjahren die prachtvolle, mit allen technischen Neuerungen ausgestattete Radio City Music Hall, ein Revue- und Filmtheater, das 6200 Menschen fasste und ein Teil des Rockefeller Center war; diese Stadt in der Stadt hatte John D. Rockefeller, der damals reichste Mann der Welt, während der Weltwirtschaftskrise errichten lassen und damit Arbeitsplätze für Tausende geschaffen. Ebenfalls ein Kind der Depression ist das Empire State Building, das 1931 in der Rekordzeit von neun Monaten hochgezogen wurde. Mit seinen 381 Metern war es bis 1970 das höchste Gebäude der Welt, Symbol für Hoffnung und Aufschwung in einer Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs.
 
Mag diese Zeit in den USA schlimm gewesen sein - in Europa mit der heraufziehenden Diktatur Hitlers war sie für viele lebensbedrohend. Jüdische Bürger, Regimekritiker, Künstler und Intellektuelle, die die Möglichkeit hatten, Mitteleuropa zu verlassen, kamen in Scharen nach New York. Während sich die Kriegs- und Nachkriegsflüchtlinge schnell und problemlos in den »American way of life« eingliederten, musste eine andere Gruppe mit sehr viel größeren Schwierigkeiten kämpfen: die Puertoricaner. Stellten sie 1940 noch ein Prozent der Gesamtbevölkerung, so waren es 1970 bereits zehn Prozent. Des Englischen nicht mächtig und mittellos, konkurrierten sie mit den Armen um die schlecht bezahlten Jobs. Konflikte, Bandenkriege mit anderen Unterprivilegierten, ob Farbigen oder Weißen, waren Tagesgespräch im New York der Fünfzigerjahre. Leonard Bernstein behandelte diese Thematik in seiner »West side story«: Als man das Musical 1961 verfilmte, drehte man noch in dem Slum, in dem die Hispanos gehaust hatten und der kurz darauf dem Erdboden gleichgemacht wurde, um Platz für das Lincoln Center for the Performing Arts zu schaffen.
 
Blickte man bis September 2001 von Chinatown, dem boomenden Stadtviertel mit seinen dickbauchigen Buddhas und den rot-golden verzierten Fassaden, über das Gewusel auf den Straßen und die Pagodendächer hinüber zum World Trade Center, das sich bis zu dem verheerenden Terroranschlag wie ein Ausrufezeichen am Ufer des Hudson erhob, erhielt man das wohl eindrucksvollste Bild der Weltkulturhauptstadt des 20. Jahrhunderts - der Stadt, über die Ingeborg Bachmann 1958 in ihrem Hörspiel »Der gute Gott von Manhattan« schrieb, dass sie die einzige sei, welche die Menschen »je erfunden und entworfen hatten für jedes ihrer Bedürfnisse. Diese Stadt der Städte, die in ihrer Rastlosigkeit und Agonie jeden aufnahm und in der alles gedeihen konnte. Alles.«
 
Christine Metzger

Universal-Lexikon. 2012.

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